Ich habe Tausende von Bildern im Kopf

ZENIT, 4/89 – von Karl Grüner

Werner Schubert-Dei­ster, 67 Jahre alt, Oberlippenbart, Baskenmütze auf dem fast kahlen Kopf, geht schleppend die Borsumer Martinstraße entlang. Sein lin­kes Bein zieht er nach. Es ist steif: Folge einer Kriegsverlet­zung. Vor zehn Jahren noch, zu Hause im Thüringer Wald, konnte man mit ihm, trotz sei­ner Behinderung, kaum Schritt halten. Doch die Jahre, und nicht nur sie, haben seinen Gang verlangsamt. Die Ar­beitswut des Malers, Grafikers und Bildhauers ist dagegen un­gebremst. Die scheint noch zu­genommen zu haben, seit er vor zwei Jahren mit seiner noch jungen Frau und den drei Kindern David (14), Judith (13) und Jonas (6) in die Bun­desrepublik ausreisen konnte. Hier in der „Rübentaiga“, wie der Künstler seine neue Heimat in der Nähe von Hil­desheim nennt, malt Werner Schubert-Deister auf Hochtou­ren, als müßte er jahrelange Versäumnisse nachholen. „Ich habe Tausende von Bildern im Kopf“, sagt er und arbeitet mit einer Geschwindigkeit, so als wollte er sie alle in wenigen Tagen vollenden. Doch das ist keine Schludrigkeit, sondern die Routine des reifen Künst­lers, dem die handwerkliche Ausführung seiner Gedanken keine Mühe mehr bereitet. Sein Handwerkszeug freilich ist manchmal ungewöhnlich: Pinsel mit kurzgeschnittenen Borsten, große Malerbürsten, Kämme oder frisch abgeschnit­tene Zweige, die innen noch voller Saft sind. Sie benützt er zum Zeichnen: „Ein Stück Natur, viel ehrlicher als jede Stahlfeder“, sagt er.

Die Bilder, aus „innerem Auftrag“ entstanden, weil Aufträge von „außen“ noch auf sich warten lassen, sind abstrakt und derzeit in eher düsteren Farben gehalten. Er hat in ihnen eigene leidvolle Erfahrungen von Krieg, Zer­störung, Krankheit und Tod verarbeitet und sicher auch die entwürdigende Behandlung, die er als nicht „linientreuer“ Künstler in der DDR erfahren hat. „Man muß erst an seine Grenzen gelangt sein, um ei­nen Ausreiseantrag zu stel­len“, sagt Christa Deister, sei­ne Frau, heute. Sie waren an diese Grenzen gestoßen und wollten die Konsequenzen zie­hen, mußten dann aber noch einen fünfjährigen Kampf mit den Behörden führen, bis diese nach einer Intervention der UNO-Menschenrechtskom­mission 1986 nachgaben und den Künstler mit seiner Fami­lie aus der „Staatsbürger­schaft“ der DDR entließen.

Nach Krieg und Gefangen­schaft hatte Werner Schubert-Deister zunächst Musik und dann noch Bildende Kunst stu­diert. 1952 ließ er sich in Friedrichroda im Thüringer Wald als freischaffender Künstler nieder und hatte bald auch er­ste Erfolge. Führende Kunst­museen erwarben damals Bil­der von ihm, darunter die (West-)Berliner Nationalgale­rie. Dann kam der Bau der Berliner Mauer, und plötzlich war Werner Schubert von der Welt abgeschnitten. Dem Dik­tat des sozialistischen Realis­mus, der ihm zutiefst fremd war, beugte er sich nicht. Er entwickelte still und zurückge­zogen seinen eigenen Stil – um den Preis freilich, daß er vom offiziellen Kunstbetrieb der DDR weitgehend ausgeschlos­sen blieb.

Als in den 60er und 70er Jahren eine Reihe von Kirchenin Thüringen renoviert oder sogar neu gebaut werden konnten, beauftragte der da­malige Erfurter Bischof Hugo Aufderbeck den Künstler mit deren Ausgestaltung. Es ent­standen viele beachtenswerte plastische Arbeiten, unter an­derem in Erfurt, Meiningen, Gotha und Heiligenstadt.

Von 1974 an nahm ein be­freundetes Ehepaar aus dem Westen gelegentlich Bilder mit in die Bundesrepublik. Aus diesem Bildmaterial entstan­den 1978 und 1979 Ausstellun­gen in Hamburg, Speyer, Kon­stanz und Neuburg a. d. Do­nau, die dem Künstler endlich die Anerkennung für seine Gemälde und Grafiken brachte, die er so lange entbehrt hatte. Doch die Freude darüber war kurz. Die DDR-Behörden er­fuhren von den Ausstellungen, verhafteten das westdeutsche Ehepaar beim nächsten DDR-Besuch und erzwangen von ihm die Rückführung aller Bil­der, die seither beschlagnahmt sind. Per Strafbefehl zog der Staatsanwalt den finanziellen Rückhalt der Familie Schu­bert-Deister, 50.000 DDR-Mark, ein.

Voll Verbitterung, zu der noch die von einem Partei­funktionär angeordnete Zer­störung einer seiner Bildhauer­arbeiten beitrug, stellte Schubert-Deister 1981 den ersten Ausreiseantrag, dem noch wei­tere folgten. Erst fünf Jahre später, 1986, durfte er schließ­lich in die Bundesrepublik übersiedeln.

Mittlerweile sind Bilder von Werner Schubert-Deister in zwei Einzelausstellungen in Freising und Augsburg gezeigt worden. Daß er auch in der Bundesrepublik vor Enttäu­schungen nicht sicher ist, hat der Künstler inzwischen erfah­ren müssen. Sein erster größe­rer Auftrag, die Gestaltung einer Altarrückwand in einer Kirche im Rheinland, ist ge­platzt. Nachdem er die Ent­würfe geliefert hatte, fand in der Gemeinde ein Pfarrerwechsei statt. Der neue Seel­sorger war mit seiner Kirchen­verwaltung der Meinung, daß in der Pfarrei andere finanziel­le Aufwendungen dringender erforderlich seien als eine künstlerische neugestaltung des Altarraums. So hofft Wer­ner Schubert-Deister weiter auf seinen ersten Auftrag im Westen.